Interview: Paradigmenwechsel in der Implantologie

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Anlässlich der 10. Norddeutschen Implantologietage am 26. und 27. Mai in Rostock-Warnemünde hatte Georg Isbaner, OEMUS MEDIA AG, die Gelegenheit, zwei ausgewiesene Experten über die unterschiedlichen Aspekte der indikationsbezogenen Wahl des Implantatdesigns, Implantatmaterials und des Augmentats zu befragen. Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz und Prof. Dr. Andrea Mombelli äußern sich im folgenden Interview über die Notwendigkeit der patientenindividuellen Indikationsstellung, die die moderne Implantologie derzeit bietet, und welche Forschungsanstrengungen in diesem Bereich noch unternommen werden müssen. Zudem loten die beiden Implantologiespezialisten im Gespräch die Grenzen und Möglichkeiten von Titan- und Keramikimplantaten aus. Dem Interview unmittelbar vorangegangen waren die Vorträge der beiden Forscher während des o. g. Ostseekongresses.

Was sind die Grundvoraussetzungen, nach denen sich die indika­tionsbezogene Wahl des Implantats richtet?

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz: Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich darauf hinweisen, dass der Kongress (10. Norddeutsche Implantologietage, Anm. d. Red.) wunderbar Verschie­denes zeigt: Erstens können wir für einige Situationen konkrete Empfehlungen für den Patienten aussprechen. Zweitens: Es gibt Dinge, bei denen befinden wir uns noch in der Forschung. Diese beiden voneinander zu unterscheiden, ist unfassbar wichtig. Bei dem einen haben wir eine höhere Handlungssicherheit, bei dem anderen sind wir noch im Bereich der Spekulation und dürfen dort nicht stehen bleiben. Außerdem kann man erkennen, dass wir bei den unterschiedlichen Patientengruppen zwischen einer systemischen Kom­promittierung, einem lokalen Behandlungsbedarf oder einer vorliegenden Infektion am Zahn oder Implantat unterscheiden müssen. Hier differenzieren wir heute viel stärker als früher. Auch die Therapie der Periimplantitis muss danach differenziert werden.

Prof. Dr. Andrea Mombelli: Wenn man sieht, wie unterschiedlich die Einheilreaktion der Patienten ausfällt, muss man auch daran denken, dass nicht alle Implantate gleich sind. Auch makroskopisch gesehen ist es nicht gleich einfach, Implantate abhängig von Lokalität und Weichgewebesituation immer bestmöglich zu inserieren. Das betrifft den Implantattyp, die geometrische Form und das Material des Implantats. Manchmal gibt es die Tendenz zum Absoluten, der Trennung zwischen gut und schlecht. Aber das eigentliche Thema ist es, zu wissen, wo genau zu optimieren ist. Es gibt Hunderte verschiedene Behandlungsvorschläge anhand meist weniger Fälle. Hier stellt sich die Frage der wissenschaftlichen Evidenz und in welchem Umfang diese vorliegen sollte.

Wir sind auf dem Weg, die Indikation viel stärker patientenindividuell he­rauszuarbeiten, als es noch vor einigen Jahren möglich war. Welche Muster liegen dem zugrunde?

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz: Auf der einen Seite werden die makroskopischen Merkmale der Gruppe der Titanimplantate unterschieden. Dabei handelt es sich je nach Ankopplungsposition der Implantate um Soft Tissue vs. Bone Level Implantate. Somit wird der An­kopplungsbereich mit der biologischen Breite aus der kritischen Zone herausgehoben.

Zum anderen muss unterschieden werden, ob die Verankerung des Implantates im knöchernen Lagergewebe über einen Gewindevorschnitt, mit homogener Kraft- und Druckverteilung zwischen der Implantatoberfläche und dem knöchernen Gewebe, oder durch ein selbstschneidendes Gewinde, mit einer inhomogenen Kraft- und Druckaufteilung, stattfindet. Des Weiteren spielt die Form des Implantats eine Rolle. Handelt es sich um ein parallelwandiges Implantat mit direkter Proportionalität der Primärstabilität zur Implantatoberfläche oder um ein konisches Implantat mit logarith­mischem Anstieg der Primärstabilität bei weiterer Insertionstiefe?

Auf der anderen Seite müssen wir wissen, welchem Patientenkollektiv der zu behandelnde Patient angehört: Gehört er in den Bereich der Risikopatienten? Wenn ja, ist es die Knochenphysiologie, ist es die Immunabwehrlage oder die Gefäßsystemversorgung? Oder hat er gar kein systemisches Risikopoten­zial in sich und zum Beispiel nach einem Unfall nur einen Zahn und knöchernes krestales Gewebe verloren? Wenn wir beides zusammennehmen und dann noch den Therapiewunsch des Patienten – möglichst schnell zum Ziel, mit möglichst dauerhaftem Erfolg – berücksichtigen, dann können wir eine Art hermeneutischen Zirkel ­schaffen. Dabei ist es fast kurios, dass wir bei einem kompromittierten Patienten wieder bei den ganz traditionellen Implantatkonzepten ankommen. Wir lassen erst ossifizieren, kortikalisieren, wir möchten somit das ausgeheilte Implantatlager; wir nehmen dann einen Gewindeschnitt und inserieren dann ein Implantat, das wir osseointegrieren lassen, und haben damit die größte Chance, Komplikationen zu vermeiden und dauerhaften Erfolg zu erzielen.

Zum Thema Primärstabilität. Es gibt Patienten, bei denen sich die konischen Implantate im Sinusbereich besonders eignen. Welche Besonderheiten muss man hier beachten?

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz: Der Sinuslift ist in dieser Hinsicht eine besondere Situation. Einerseits duldet er groß­volumige Knochenersatzmaterialien als Augmentat, weil er durch die fast einer „mehrwandigen Knochentasche“ ent­sprechenden Defektgeometrie ein gut regenerierbares, gut vaskulär erschließbares Lager darstellt. Andererseits gibt es trotz vertikaler Minderung der ­Kieferkammhöhe zwei Kortikalisschichten, die als guter biologischer Pfad fungieren. Selbst bei geringen Implantatverankerungslängen von 3 bis 4 mm können wir so Implantate bikortikal verankern. Durch diese beiden biolo­gischen Features, in Kombination mit dem mechanischen Feature einer ko­nischen Implantatform am Kieferhöhlenboden, können wir mit einer geringen restlichen Drehung die Primär­stabilität in der Hand des Behandlers wirklich optimieren. Daraus resultiert eine vergleichbar gute Prognose für die simultane Implantation mit Sinuslift. Andererseits verweist es auf die Wahl eines im Halsbereich konischen Im­plantates.

Prof. Mombelli, Sie haben von einem Indikationsbereich gesprochen, bei dem Sie heute schon sagen könnten, dass man hier mit der Anwendung von Zirkonimplantaten auf der sicheren Seite ist. Um welche Indikationen handelt es sich dabei?

Prof. Dr. Andrea Mombelli: Ich denke, man muss da vorsichtig sein, weil noch nicht alle Daten vorhanden sind. Tat­sache ist, dass wir im Titanbereich eine große Vielfalt haben, auch hinsichtlich prothetischer Hilfsteile und Implantatformen. Im Zirkonbereich haben wir diese Vielfalt noch nicht in gleichem Maße. Meine persönliche Meinung ist, dass einteilige Implantate seit 20 Jahren hinter uns liegen. Wir brauchen auch bei Keramikimplantaten Zweiteiligkeit, aber bei der Zweiteiligkeit kommt sofort die Problematik der Implantatverbindung. Hier bestehen erhebliche technologische Herausforderungen, die gemeistert werden müssen.

Heute wird gesagt, es gibt gewisse Patienten mit Titanunverträglichkeit, die mit Zirkonimplantaten versorgt werden sollten. Eine Titanallergie im engeren Sinne ist zwar nicht nachgewiesen, es ist aber wahrscheinlich, dass gewisse Menschen tatsächlich Probleme mit Titan haben können. Hier brauchen wir weitere Forschung frei von ideolo­gischer Voreingenommenheit.

Dann gibt es auch Patienten, die einfach kein Metall im Mund haben wollen. Generell gibt es in der Medizin und Zahnmedizin einen Trend weg vom Metall. Ich glaube deshalb nicht, dass Titan die Zukunft ist. Titan ist die Gegenwart. Auf der anderen Seite sind wir noch nicht am Ende der Entwicklung. Man kann heute Zirkon­implantate setzen, die Weichgewebesituation sieht sehr gut aus, aber wir haben im prothetischen Bereich noch gewisse Limitationen und es fehlen uns noch die Langzeitdaten, die bei Titan­implantaten vorliegen. Das Wichtige ist, dass man mit dem Patienten offen diskutiert. Verschiedene prothetische Lösungen haben unterschiedliche technische Risiken. Das individuelle Risiko für biologische Komplikationen hängt neben der Reaktion des Körpers auf das Implantatmaterial auch von Faktoren wie Mundhygiene und Tabakkonsum ab. Keramik kann brechen, aber Periimplantitis an Titanimplantaten führt zu erheblichem Knochenverlust. Wenn der Patient richtig informiert ist und das Gefühl hat, eine eigene Entscheidung getroffen zu haben, dann kann das in solch einem Fall von Vorteil sein. Das Phänomen der Selbstheilungskräfte ist dabei nicht zu unterschätzen, ebenso die Motivation zur Implantatpflege.

Prof. Dr. Andrea Mombelli: Ich glaube nicht, dass es heute eine absolute Indi­kation für Zirkonimplantate gibt, und ich glaube auch nicht, dass es heute eine absolute Kontraindikation für Titan­implantate gibt. Es gibt Möglichkeiten in beiden Bereichen. In der komplexen Prothetik würde ich zum Beispiel heute nach wie vor Titanimplantate benutzen, im ästhetischen Bereich und bei Menschen, die auf Metallfreiheit Wert legen, haben wir in den Zirkonimplantaten eine gute Alternative gefunden.

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz: Aus der Diskussion um Keramikimplantate sollten wir unbedingt die ideologische Überzeugung herausnehmen. Das öffnet den Raum für die wissenschaftliche Betrachtung dieser Implantate und zu patientenindividuellen Behandlungsempfehlungen für eine größtmögliche Behandlungssicherheit.

Vielleicht ähnlich dieser Frage nach dem Implantatmaterial beginnt gerade ein wichtiger Wandel hinsichtlich der Augmentationsstandards. Wenn wir den Paradigmenwechsel der Implantologie darin wahrnehmen, dass wir heute fast keine gruppenbezogenen Kontraindikationen mehr haben, also Patientenkollektive bzw. Grunderkrankungen, bei denen nicht implantiert werden dürfte, dann eröffnet sich die Frage, welche Auswirkungen hat dies auf die etablierten Augmentationsstrategien. Ich möchte dies am Beispiel des Patienten unter Anti­resorptiva-Medikation erläutern: Ist unter einer Bisphosphonattherapie die autologe Knochentransplantation noch als Goldstandard anzusehen? Schließlich transplantieren wir Bisphosphonat-­gesättigtes Knochengewebe! Ist hier eher dem Knochenersatzmaterial der Vorzug zu geben, wenn auf eine Augmentation nicht verzichtet werden kann. Und noch weiter gedacht: Wenn die Kompromittierung des Antiresorptiva-­Patienten in der Hemmung des Bone Remodeling, also der Knochenumbaurate, zu sehen ist, sollte dann eher resorbierbaren Knochenersatzmaterialien der Vorzug gegeben werden, sodass radiologisch die Erschließung des Augmentates hinreichend sicher überprüft werden kann. Gerade nach der Publikation der S3-Leitlinie zur Frage Implantate bei Patienten unter Knochenantiresorptiva wird unser Blick derzeit nachdrücklich in diese Richtung gelenkt.

Nochmals zurück zur Wahl des Implantatmaterials. Prof. Mombelli, liegt die Lösung nicht einfach in der Kombination beider Materialien im Implantatkörper bzw. zwischen Titan­implantatkörper und monolithischem Keramikaufbau?

Prof. Dr. Andrea Mombelli: Eine Option ist in der Tat auch ein Implantat aus Titan im Bereich des Knochens mit einem Aufbau aus Zirkon im Bereich des Weichgewebes. Aufgrund der ­unterschiedlichen Materialhärten kann es allerdings zu Titanabrieb kommen. Titan­partikel können in solchen Fällen im periimplantären Gewebe nachgewiesen werden. Langfristig ist dies wohl nicht der richtige Weg.

Sie sprachen in Ihrem Vortrag auch über das Phänomen der aseptischen Lockerung bei Zirkonimplantaten. Können Sie dazu noch einmal Stellung nehmen?

Prof. Dr. Andrea Mombelli: Der Begriff der aseptischen Lockerung wurde bereits früher in ähnlichem Kontext in der orthopädischen Gelenkprothetik verwendet. Hierbei handelt es sich nicht um Periimplantitis, also nicht um eine Infektion, sondern um den plötzlichen Verlust des Verbunds zwischen Implantat und Knochen. Zu den Gründen hierfür gibt es verschiedene Hypothesen, wobei die Eigenschaften der Implantat­oberfläche wahrscheinlich eine wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang besteht das Dilemma, dass wir auf der einen Seite für eine optimale Kno­chenverankerung eine raue Oberfläche haben möchten; für eine bestmögliche physikalische Stabilität muss Keramik jedoch glatt sein. Jedes Mal, wenn die Oberfläche eines Keramikkörpers bearbeitet wird, wird er geschwächt. Deshalb können Keramikimplantate auch nicht beschliffen werden. Es gibt jedoch diverse Arbeiten dazu, wie man die Oberfläche der Keramikimplantate optimieren kann. Hier muss man einen Kompromiss finden zwischen Rauigkeit und der Materialstabilität.

Auch die Implantatform spielt eine Rolle. Bei Implantaten in der Form eines rotationssymmetrischen Zylinders kann man beim Einbringen etwas mit der Höhe spielen, was bei konischen Implantaten unmöglich ist. Metall ist ein guter Hitzeleiter, Keramik ist ein Isolator. Beim unsachgemäßen Einbringen eines konischen Keramikimplantats könnte es daher zu einer lokalen Überhitzung des Knochens kommen. Die klinischen Auswirkungen dieser Hypothese sind allerdings nicht bewiesen.

Wichtig ist sicher auch die Oberflächenreinheit des Implantats, angefangen bei Produktion und Qualitätssicherung. Verschiedene Arbeiten haben auf molekularer Ebene Rückstände von Herstellungsprozessen nachgewiesen. Auch hier kann man noch optimieren. Um es kurz zu machen: Ich weiß nicht genau, warum sich eine gewisse Anzahl von Zirkonimplantaten aseptisch gelockert hat. Was jedoch wichtig ist: All diese Implantate gingen in den ersten Monaten verloren. Wenn die Implantate die ersten Monate überleben, bleiben sie auch langfristig stabil. Dies könnte auch bedeuten, dass etwas bereits gleich zu Beginn nicht funktioniert hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einzelne Implantate früh ihre Verankerung verloren haben, dass dies jedoch erst beim Einsetzen der Suprastruktur klinisch erkannt wurde.

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz: Hinsichtlich der Knochenphysiologie handelt es sich wahrscheinlich um eine Dysbalance zwischen osteoklastärer Resorption und osteoblastärer Knochenneubildung. Damit ist die Begrifflichkeit aus der Hüft- oder Endoprothese allgemein sogar richtig, und hier schließt sich der inhaltliche Kreis wieder zu einem Kuriosum: Was machen Chirurgen bei einer aseptischen Lösung des Gelenk­implantates, z. B. Hüft-TEP? Sie geben ein Antiresorptivum. Die Bisphosphonate, vor denen wir im Kiefer Angst haben, werden da therapeutisch eingesetzt – ohne primäre Indikation ­Osteoporose oder Knochenmetastasen. Würden wir dieses Konzept einfach auf unsere Keramikimplantate übertragen dürfen? Sicher nein. Das Spannende an dem Thema sind die tatsächlichen Unterschiede von Keramik- und Titan­implantaten. Diese Unterschiede müssen wir wahrnehmen und daran weiter forschen.

Über die indikationsbezogene Wahl des richtigen Implantats hinaus, spielt in Fällen, bei denen Knochen- und Gewebeaufbau nötig sind, auch die Wahl des Augmentats eine entscheidende Rolle. Es ist schon einmal kurz angesprochen worden. Was gibt es hierbei zu beachten?

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz: Diese Frage nehme ich sehr gerne nochmals auf. Unser Goldstandard hinsichtlich des Augmentationsmaterials ist: Wir nehmen körpereigenen Knochen, mit dem geht es doch in jedem Fall am besten. Wirklich in jedem Fall? Was machen wir aber bei einem Patienten unter Therapie mit Protonenpumpenhemmern oder selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern oder eben Antiresorptiva, der systemisch seine Medikamentenwirkung im knöchernen Gewebe hat? Dürfen wir diese Autoplastik wirklich als Goldstandard bezeichnen? Wahrscheinlich eher nicht. Ähnliches gilt für den Strahlentherapiepatienten, nur haben wir hier ja noch die Option, die Osteoplastik außerhalb des Strahlenfelds zu heben. Wenn wir uns bei den zuerst genannten Patienten für ein Knochenersatzmaterial entscheiden, ist dann ein nicht resorbierbares das Richtige? Brauchen wir hier nicht gerade eine Art Monitoring des Knochenumbaus im Augmentat und damit ein resorbierbares Knochen­ersatzmaterial? Wenn wir derzeit bei den Augmenta­tionsmaterialien den Boden des sicheren Wissens verlassen und in den Bereich gehen, wo wir uns Fragen aufgeben müssen, haben wir unfassbar viel Spannendes in den nächsten zehn bis 20 Jahren zu erwarten.

Prof. Mombelli, Prof. Grötz, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview ist im Implantologie Journal 7+8/17 erschienen.

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